Alles hat zwei Seiten. Ganz besonders Israel und Deutschland, und noch mehr gilt das für die beiden künstlerischen Zentren dieser Staaten: für Tel Aviv und Berlin. Einseitige Betrachtungen werden den vielseitigen Metropolen nicht gerecht, und das Schöne am Erzählen in Bildern ist, daß man solche Metaphern wörtlich nehmen kann.
Deshalb haben die Autorinnen und Autoren des Reisebuchs »Tel Aviv Berlin« im Kampf gegen die Einseitigkeit jeder Stadt jeweils zwei Seiten gewidmet. Alle Beteiligten haben jedoch zugleich auch die zwei Seiten ihrer eigenen Erfahrung in Bilder gefaßt: die Heimat und die Fremde.
Und so hat jeder Künstler im Kampf gegen die Einseitigkeit sogar vier Seiten zur Verfügung. Ist das zu kompliziert? Dann sagen wir einfach, daß eben auch die Vielseitigkeit mindestens zwei Seiten hat.
Und je größer die Vielseitigkeit, desto besser. Fünf Israelis und drei Deutsche über zwei Städte, das gibt bereits ein Oktett mit sechzehn Perspektiven. Aus Tel Aviv stammen dabei (in der Reihenfolge ihres Auftritts im Buch) Rutu Modan, Yirmi Pinkus, Mira Friedman, Itzik Rennert und Batia Kolton; Jan Feindt, Anke Feuchtenberger und Henning Wagenbreth dagegen kommen aus Berlin.
Sie haben sich gegenseitig in ihren Städten besucht und dann das in Bildern und Worten festgehalten, was sie voneinander gelernt haben. Und das ist einiges, denn der fremde Blick lenkt den eigenen über das längst Bekannte hinaus, und der vertraute Blick hilft dem ersten übers bloße Staunen hinweg.
Man kann sich nämlich einer Sache zu sicher sein, aber auch zu unsicher. Wobei nicht gesagt sein soll, daß in diesem Reisebuch keine Unsicherheit herrschte. Im Gegenteil: Jeder der sechzehn Blicke auf die beiden Metropolen ist ein Rätselspiel.
Ob man sich auf die Suche nach Details begibt wie in Henning Wagenbreths oder Mira Friedmans überbordenden Stadtpanoramen, ob man sich mit Rutu Modan und Anke Feuchtenberger auf autobiographische Annäherung im Falle der Heimatstadt und auf investigative im Falle des besuchten Stadt begibt, ob man mit Jan Feindt und Itzik Rennert die Möglichkeiten einer israelisch-deutschen Liebe austestet oder mit Yirmi Pinkus und Batia Kolton die Stimmen und Stimmungen der Bewohner Berlins und Tel Avivs kennenlernt — immer bleibt über die bildergeschichtliche Anschaulichkeit hinaus ein Rest an Geheimnis.
Es wäre aber gleichfalls falsch zu bestreiten, daß es in »Tel Aviv Berlin« Sicherheiten gäbe. Was uns die sechzehn Episoden erzählen, ist der unlösbare wechselseitige Bezug der beiden Städte aufeinander — durch Klischees, Erwartungen und Erfahrungen.
So lernen wir Deutsche, was Israelis an Berlin fasziniert: das Dynamische und das Dämonische. Während die israelische Leser erkennen können, was Tel Aviv in deutscher Perspektive ausmacht: das Exotische und das Utopische.
All das findet zur Sprache in den Bildern, die auf bisweilen wundersame Weise den Stil wechseln, obwohl sie aus derselben Feder stammen. In Anke Feuchtenbergers Tel-Aviv-Hommage ist es gegenüber ihrem dunkelbraunen Berlin taghell.
Itzik Rennert setzt gegen die fließenden Bauhausformen Tel Avivs die kantige Architektur der deutschen Hauptstadt. Rutu Modan faßt Berlin in klassische Comic-Seitenarchitektur, während sie ihre israelische Heimatstadt in einem doppelseitigen Großtableau porträtiert.
Jan Feindt dagegen widmet beiden Städten kleinteilige Bildarrangements, die sich aber in den Farben drastisch unterscheiden, wobei die Aufteilung in rotglühenden Sommer (Tel Aviv) und blaufröstelnden Winter (Berlin) unseren Erwartungen entsprechen, während Mira Friedman ein nostalgisches Kästner-Berlin vor der Shoah heraufbeschwört, das mehr warme Farben zu bieten hat als die von der Zeichnerin porträtierte Regenbogen-Gesellschaft in Tel Aviv.
In den gezeichneten Gesprächsprotokollen von Yirmi Pinkus kommen die Nachgeborenen dagegen wieder vor kräftigen Fonds für Tel Aviv und blassen für Berlin zu Wort.
Und Batia Kolton (wie auch indirekt Itzik Rennert) hat ein unversöhnliches Gegenporträt des Städtepaars gezeichnet, dessen deutsche Hälfte sich nicht aus den Klauen der Vergangenheit lösen kann.
Schließlich aber spricht Henning Wagenbreth piktogrammatisch auch die Widersprüche des modernen Israel an und setzt Tel Aviv und Berlin in Teilen parallel: durch Mauern, Mord und Marodeure.
Und doch: Während bei Wagenbreth im israelischen Wasserbecken quicklebendige Schwimmer kraulen, treibt in seinem deutschen Kanal eine Leiche.
Es ist Rosa Luxemburg, die damit im letzten Beitrag noch einmal auftritt, nachdem Rutu Modan im ersten ihre Vision vom Streifzug der ermordeten jüdischen Kommunistin durch das heutige Berlin vorgestellt hat: schon wieder zwei Seiten einer Geschichte.<br /><br />